Montag, September 04, 2006

Der Mann, der nicht gehen konnte.



Es ist schwer zu sagen, wann genau das Hirngespinst, das in seinem Kopf herumspukte, zu einer fixen Idee wurde und Besitz von seinem Leben nahm. Sicherlich war es an einem dieser sonnigen Nachmittage im baumreichen Park der Klinik, an denen er sich die Zeit damit vertrieb, die Vögel am Himmel zu beobachten und zu warten, bis wieder eins der Tiere den Anflug auf die Wipfel der alten Kastanie unternahm. Und wahrscheinlich war es der Nachmittag, an dem ihm die Ärzte mitteilten, dass sie eine erneute Operation vornehmen werden müssen und er auch das letzte, für eine Prothese verwendbare Stück seiner Oberschenkel verlieren würde.

Er damals 34 Jahre alt und konnte auf eine atemberaubende Karrerie in der Luftfahrt zurückblicken. Schon in frühester Jugend hatte er das Fliegen gelernt und in seiner Dienstzeit bei der Luftwaffe war er der jüngste Pilot, den die Bundeswehr jemals ins Cockpit eines Kampfjets gesetzt hatte. Nachdem ihm bewußt geworden war, dass ihn die Ausübung seiner größten Leidenschaft dazu bringen könnte, unschuldige Menschen zu töten, quittierte er seinen Dienst und absolvierte in Rekordzeit das Ausbildungsprogramm zum Kapitän eines Passagierflugzeuges.

Es war eine fantastische Zeit. Im Gegensatz zu seinen Pilotenkollegen sollte er nicht lange gröhlende Touristengruppen an ferne Strände und abgeklärte Geschäftsleute zu deren Auslandsterminen fliegen müssen. Er war eloquent, gebildet, beherrschte fließend fünf Sprachen und sah umwerfend aus. Ein großer Junge mit strubbeligen, brauen Haaren und einem Lachen, das sein Gegenüber automatisch die Sonne in das Gesicht zauberte - so als ob er von seinen Flügen einige Strahlen mitgebracht hätte. Er war 1,92 m groß, sehnig-athletisch und hatte den Gang einer Raubkatze. Es war kein Wunder, dass ihn seine Airline mehr und mehr für ihre Öffentlichkeitsarbeit einsetzte und seine Arbeit fortan darin bestand, hochgestellte Persönlichkeiten durch die Welt zu fliegen und PR-Filme zu drehen. Doch dies wäre nicht das Ende seiner Karriereleiter gewesen. An jenem nebligen Herbstmorgen war er auf dem Weg zu einem Gespräch im Ministerium für Luft- und Raumfahrt, als der dänische Sattelschlepper seinen Triumph Stag fast ungebremst durch die Mittelleitplanke katapultierte und ihm das Armaturenbrett die Beine zerquetschte.

Es muss wieder einer diesen Sommertage gewesen sein, an denen einen die Luft wie mit einer flauschigen Decke einhüllt und sich Körper und Seele so wunderbar leicht anfühlen. An diesem Tag wurde ihm bewusst, dass er mit seinen Beinen nicht nur die Fähigkeit zum Laufen, Tanzen und zum Küssen eines Mädchens im Stehen verloren hatte, sondern auch ein Drittel seines Körpergewichtes. Und an eben diesem Tag fasste er den Entschluß, wieder fliegen zu können.

Die Versicherung des dänischen Spediteurs hatte sich großzügig gezeigt und zusammen mit der Invalidenrente und den Entschädigungen seiner Unfallversicherung verfügte er über erhebliche finanzielle Mittel. Diese Gelder und seine Kontakte zur Luftfahrtindustrie nutze er für die Entwicklung und Herstellung von Kohlefaserelementen, die im Aufbau den Schwung- und Steuerfedern der Vögel nachempfunden waren. Er vertiefte seine ohnehin fundierten Kenntnisse in Aerodynamik und studierte wie besessen die Geheimnisse und die Schönheit des Vogelflugs. Er konstruierte künstliche Handschwingen, die es ihm mittels einem filigranen Aramid-Faser-Geflechts ermöglichten, die einzelnen Federfahnen beim Abschlag zu schließen und beim Aufschlag zu öffnen, um sich nicht selbst wieder nach unten zu drücken. Diese Steuerung würden seine Finger übernehmen – die Steuerung der Schwanzfedern, die aus hauchdünnen Kohlefaserplatten nachgebildet wurden und als Höhenruder dienten, würde er durch Kopfbewegung bewerkstelligen.

Parallel arbeitete er an seinem Körpergewicht und seinem persönlichen Leistungsvermögen. Die Energieeffizienz würde das größte Problem bleiben. Er war immer schon extrem schlank und stark gewesen, aber das würde bei weitem nicht reichen. Täglich ließ er sich ins Hallenbad bringen und absolvierte mit einer Auftriebshilfe an seinen Beinstümpfen 25 km in einem Delphin-ähnlichen Schwimmstil, der dem Bewegungsmuster beim Flügelschlag am ähnlichsten kam. Er ernährte sich extrem kontrolliert und brachte somit seinen Körperfettanteil auf knapp unter 3%. Es wäre wahrscheinlich noch weniger geworden, wenn er sich nicht einmal in der Woche zwei Scheiben frisches Brot mit der groben Bauernleberwurst aus der Heimat seines Vaters gegönnt hätte. Ein kleiner Genuss, auf den er nicht verzichten wollte. Er trainierte hart und ausdauernd mit wenig Gewichten, um nicht zuviel, aber dafür effektive Muskelmasse aufzubauen. Er wusste genau, dass er nur sehr wenig im Gleitflug bleiben konnte und der Ruderflug seine Energie in Rekordzeit verbrennen würde. Allein das Erheben vom Boden würde unmenschliche Kräfte erfordern.

Seine Wohnung und Werkstatt ließ er mit Deckenseilen durchziehen und er schaffte es nach einiger Zeit des Trainings, sich komplett aus dem verhassten Rollstuhl zu lösen. Er bewegte sich jetzt nur noch mit der Kraft seiner Arme und Hände durch sämtliche Räume – in einer Geschwindigkeit, die es den wenigen Besuchern schwer machte, ihm zu folgen.

Als seine fünf Meter langen, nur 400 Gramm leichten Schwingen in mühevoller Handarbeit fertiggestellt waren, waren neun Jahre vergangen. Sein Körper wog jetzt nur noch 26 Kilo.

Es war ein sonniger, warmer Nachmittag im Park, an dem ein paar Spaziergänger einen merkwürdig aussehenden Rollstuhlfahrer beobachteten, der auf einem Anhänger etwas riesiges hinter sich her zog. Er schaute in den Himmel, beobachtete die amboßartigen Wolkenformationen und wusste, dass die Thermik günstig war. Wie schon tausendmal geübt, vervollständigte er seinen amputierten Leib mit den schwarz-glänzenden Flügeln, schloß die Augen und bewegte seine sehnigen Arme.

Eine Moment später öffnete er die Augen und sah nicht weit neben sich einen Schwarm Tauben, die die letzten Sonnenstrahlen des Tages für einen Rundflug nutzten. Trotz der Anstrengung, die es ihn kostete, Höhe gewinnen, fühlte er sich so leicht und frei wie niemals zuvor seinem Leben und begann zu weinen.

Die Vögel hatten schon ihr Nachtquartier aufgesucht und die Sonne verlor ihre Kontur und tauchte den Fluß in ein warmes Rot, als er vor Entkräftung das Bewusstsein verlor und der erste Mensch, der fliegen konnte, auf den harten Beton der Uferbefestigung aufschlug.

5 Comments:

Blogger Singamoebe said...

Wie immer....sehr schön...spontan fällt mir ein: Willkommen in der Realität

8:07 AM  
Blogger mq said...

Auch wenn Ikarus immer wieder abstürzt, für den kurzen Moment an der Sonne rentiert es sich. Die Wolken auf dem Bild hätten ihn vielleicht getragen. Wenn er sie überwunden hätte.

9:57 AM  
Blogger Bob said...

Eindeutig. Jetzt haben se dich geholt. Die Kombination Fliegen und Schlafen zur gleichen Zeit tut dir nicht gut. Ich bin mal gespannt was Dir einfällt wenn Du schläfst und gleichzeitig auf der Toilette sitzt. hmm... ich mag gar nicht drüber nachdenken...:)

10:56 AM  
Blogger Kühles Blondes said...

wobei...ohne arme kann man viel hübscher auf die fresse fallen :)

11:24 AM  
Anonymous Anonym said...

Die Bauernleberwurst reisst einen immer rein.. Deshalb bin ich Vegetarier.

12:23 PM  

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