Montag, August 14, 2006

Handelsblatt, 14. August 2009

Espoo, Finnland: Der finnische Telekommunkationskonzern Nokia hat heute in einer Pressekonferenz überraschend verkündet, mit Beginn des Jahres 2010 massiv in das Bionic-Clothing Geschäft zu investieren. Damit wäre erneut für einige Überraschungen in der uferlos boomenden Fashionindustrie gesorgt, nachdem die Branche zu Beginn des Jahrtausends einige Jahre der Stagnation über sich ergehen lassen musste.

Den Anstoß für den Aufschwung hatte damals, Ende des Jahres 2006, eine aufsehenerregende Studie der Fachzeitschrift „Textilwirtschaft" gegeben. In dieser Studie hatten weitreichende Umfragen gezeigt, dass das Modediktat der Frauen- und Männerzeitschriften sowie strategisch ausgewählter Topstars aus der Musik-, Film- und Glamourszene tatsächlich in vollem Umfang bei der Käuferschicht aller Altersklassen und aller sozialen Gefüge gegriffen hatte. Faktoren wie Qualität, Passform, Preis, typgerechtes Erscheinungsbild und das Bedürfnis zur Individualität spielten laut der Studie bei der Kaufentscheidung eine untergeordnete bis gar keine Rolle mehr.

Damals schlug die Stunde des arbeitslosen Ex-VW-Managers und Lean-Production-Spezialisten Jose Ignazio Lopez, der seine Sozialhilfe bis dato nur noch mit dem gelegentlichen Tür-zu-Tür-Verkauf von Abhörgeräten und Mini-Webcams an eifersüchtige Eheleute aufbesserte. Der findige Geschäftsmann dachte die Erkenntnisse der Studie konsequent zu Ende und gilt seither als Gründer des „Bionic Clothing".

Die Textilindustrie litt damals unter der kostspieligen Fertigungstiefe mit zahlreichen Größenvarianten, die wegen den unglücklicherweise recht verschiedenen Physiognomien der Kunden unungänglich erschien. Lopez übernahm die F+E-Abteilung des bankrotten Boeing-Konzerns, dessen komplettes Aktienpaket nach dem tragischen Absturz des als Airbus-Gegner in Rekordzeit konstruierten Superjets 797 für 1 Dollar erworben werden konnte. Die Katastrophe des Jungfernflugs, bei dem beide Tragflächen des Riesenfliegers noch auf der Startbahn abbrachen, kostete allen 1.700 Insassen das Leben.

Die findigen Ingenieure des Luftfahrtkonzerns entwickelten ein hautähnliches und hautfreundliches Nano-Material, dass – als Vollanzug gewebt – den menschlichen Körper durch Polaritätsänderungen im Stoff in die gewünschte Form pressen konnte. Passformstörende Anormalien wie Schmierbäuche, krumme Rücken oder speckige Oberschenkel wurden verteilt und glichen auf diese Weise andere Norm-Abweichungen wie zu kurze Arme oder Hühnerbrüste aus. Dieser revolutionäre High-Tech-Anzug konnte mit den Erzeugnissen der Modeindustrie formschlüssig benäht werden und musste fortan nur noch in 3 Basisformaten herstellt werden: Dolly, Average und Huggy.

Die Konsumenten nahmen Lopez' Neuheit begeistert auf. Endlich war Schluß mit der lästigen Auswahl von Farbkombinationen, Accessoires und zeitaufwändigen Anproben. Der Kunde musste einfach nur je nach Anlaß, Stimmung und gewünschtem Geschlecht unter den verschiedenen All-in-one-Looks wählen, wie z. B. „Skater", „Staranwalt", „Loverboy“, „Etatdirektorin“, „Fußballergattin", „Probiotikerin" oder „Foxy Lady". Entsprechende Kindermodelle folgten fast zeitgleich.

Nokia plant nun, seine Facilities im Bereich der Handy-Oberschalen zu erweitern und Gesichtsavatare mit eingebautem Sprachmodulen passend zu den aktuellen bionischen Trend-Sets herzustellen. Analysten sagen der Firma fantastische Zukunfsaussichten voraus. Der Aktienkurs des Unternehmens stiegt allein heute um sagenhafte 4.632 Prozent.

Auch andere Konzerne melden starkes Interesse an: Gerüchten zufolge plant Sony in Kooperation mit Konami bereits eine bahnbrechende technische Revolution, bei dem vollends auf den menschlichen Inhalt der Bionic-Anzüge verzichtet werden kann. Erste Versuche auf Cocktailparties und Vernissagen sollen erfolgreich verlaufen sein.

4 Comments:

Blogger mac said...

Klar waren die ersten Tests auf Vernissagen erfolgreich, bei den Leuten ist oftmals sowieso schon kein Körper geschweige denn Geist in der Hülle die sie tragen.

Aber ansonsten geht's Dir gut, oder? ;-)

M.

3:51 PM  
Blogger mq said...

Innovativer Text - ein Höhepunkt der negativen Utopie!

11:13 PM  
Anonymous Anonym said...

Liest sich wie eine Mischung aus Stanislav Lem und Ephraim Kishon. Vielleicht hast du deinen Beruf verfehlt…

11:29 AM  
Blogger Der_grosse_Transzendentale_Steini said...

@Mekki: Stimmt, der Ort für den Testlauf war geschickt gewählt.
@mq: Komischerweise verbinde ich Utopien immer nur mit negativem.
@Edler: Danke für das Kompliment. Zumindest hätte ich gern einen anderen Beruf, das stimmt.

11:36 AM  

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